Wie gemeinschaftliches Bauen und Wohnen aus der Nische kommt
3. Juni 2022
Projekt
Wohnraum ist knapp und teuer, immer mehr auch im ländlichen Raum. Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen kann eine interessante und zukunftsträchtige Alternative zu herkömmlichen Bau- und Wohnkonzepten sein. Wie diese Wohnform von der Nischenerscheinung mehr in die Breite kommen kann, diskutierten Fachleute und Interessierte auf Einladung der Regionalentwicklung Vorarlberg am 2. Juni in Feldkirch.
Bewusstsein schaffen für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen, Fachwissen zur Verfügung stellen und Entscheidungsgrundlagen schaffen: Das waren die Ziele des Projekts „Neue Nachbarschaft“, das die Regionalentwicklung Vorarlberg während zweieinhalb Jahren umgesetzt hat. Interessierte wie Gemeindeverantwortliche, Architekt*innen und Vertreter*innen von Wohninitiativen hatten sich bei der Arbeiterkammer Vorarlberg versammelt, um die Ergebnisse des Projekts kennenzulernen. Die Veranstaltung „Gemeinschaftlich Bauen und Wohnen in Vorarlberg: Von der Theorie zur Praxis“ bot über ein hochkarätig besetztes Podium außerdem Gelegenheit zu diskutieren, welche Starthilfen für neue Wohnformen in Vorarlberg nötig sind. Fred Frohofer, Experte für neue Lebensformen und Suffizienz aus Zürich, gab zuvor anschauliche Beispiele, wie gemeinschaftliches Wohnen Geld und Zeit spart und die Lebensqualität steigert.
Großer Bedarf nach zukunftsträchtigen Wohnformen
Die Nachfrage nach Wohnraum ist auch im ländlichen Raum ungebrochen. Attraktive Wohnprojekte orientieren sich an den lokalen Gegebenheiten, berücksichtigen die Bedarfe der unterschiedlichen Generationen, den Zuzug und das örtliche Betreuungs- und Nahversorgungsangebot. Innovative Wohnprojekte mit gemeinsam genutzter Infrastruktur ermöglichen ein attraktives und leistbareres Wohnen. Der Bedarf hierfür in Vorarlberg ist groß. „Alle Regionen im LEADER-Gebiet (Leiblachtal, Bregenzerwald, Kleinwalsertal, Großwalsertal, Klostertal-Arlberg, Montafon) haben dies bestätigt“, unterstreicht Peter Steurer, Manager der Regionalentwicklung Vorarlberg, die Wichtigkeit neuer, bedarfsorientierter Wohnformen.
Mit den Aktivitäten im Projekt „Neue Nachbarschaft“ ist es gelungen, das Bewusstsein für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen zu steigern. Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen erleben konnten Interessierte bei Besichtigungen erfolgreicher Projekte wie der Wohngenossenschaft wohnenPlus in Wangen im Allgäu. Langfristig nutzbar ist eine Ausstellung, die von Interessierten ausgeliehen werden kann, ergänzt durch fundierte weiterführende Informationen auf der Projekt-Webseite.
Gemeinden als Schlüsselakteure
Neben Veranstaltungen für Wohninitiativen und Fachleute wie Architekt*innen und Architektur-Student*innen bot das Projekt verschiedenste Angebote für Gemeinden. Als Schlüsselakteure können sie gemeinschaftliche Bau- und Wohnprojekte unterstützen, selbst umsetzen, aber auch erschweren und verhindern. Gemeindeverantwortliche aus Vorarlberg erfuhren im Rahmen des Projektes aus erster Hand, worauf es beim gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen ankommt. Planspiele boten die Möglichkeit, sich vertieft mit Wohnbauprojekten und Nachbarschaftsbetrachtungen auseinanderzusetzen und die raumplanerischen Rahmenbedingungen und Sichtweisen verschiedener Akteur*innen und Beteiligter kennenzulernen.
Leitfaden als kompaktes Nachschlagewerk
Damit das Grundlagenwissen für Gemeindeverantwortliche jederzeit zugänglich ist, hat die Regionalentwicklung Vorarlberg einen Leitfaden als gedruckte und online verfügbare Version herausgegeben. Die Publikation zeigt in kompakter Form und mit anschaulichen Beispielen auf, wie die Gemeinde von neuen Wohnformen profitiert und was es für eine erfolgreiche Umsetzung zu beachten gilt. Wichtig ist, dass sie selbst aktiv wird.
Was Menschen durch gemeinschaftliches Wohnen gewinnen
Fred Frohofer, Gründungsmitglied von Neustart Schweiz, teilte in seinem Vortrag seine Erfahrungen, welchen Mehrwert gemeinschaftliches Wohnen bringt. Durch gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen unterschiedlicher Art, sogenannte Commons, sparen die Nutzer*innen Zeit, Geld und Ressourcen. Pro Person verbrauchen wir derzeit im Raum Deutschland-Österreich-Schweiz durchschnittlich rund 46 Quadratmeter Wohnfläche – dies, da Einpersonenhaushalte meist überdimensioniert sind. Frohofer empfiehlt, den individuellen Wohnanteil auf rund 25 Quadratmeter zu reduzieren – für eine vierköpfige Famile wären das dann rund 100 Quadratmeter Wohnfläche; ein Einpersonenhaushalt darf natürlich etwas grösser sein, mit etwa 30 Quadratmetern lässt es sich gut und günstig leben. Das reicht in beiden Fällen, denn zusätzlich finanziert jede Person 5 Quadratmeter kollektiv genutzte Fläche mit. Würden 120 Menschen so wohnen, ergäben sich 600 Quadratmeter, für beispielsweise einen Gemeinschaftsraum mit Küche für Feste, einen Lebensmittelladen mit Bistro und eine Werkstatt.
Insbesondere am Beispiel der Wohngenossenschaft Kalkbreite in Zürich beschrieb Frohofer die weiteren Gewinne für die Bewohner*innen und die umgebende Nachbarschaft: eine ökologischere Lebensweise, bessere Nahversorgung, weniger Verkehr, günstigere Kinderbetreuung, mehr soziale Kontakte und vieles mehr. Genossenschaftlich oder als Verein organisierte Wohnbauprojekte bieten lebenslange Nutzrechte in Kostenmiete. Dies in Kombination mit gemeinschaftlich genutzter Infrastruktur und Flächen führt zu einer Kostenersparnis von rund 30 Prozent gegenüber privatwirtschaftlichen Projekten.
Heilige Kuh Eigentum
Die abschließende von Projektbegleiter Paul Stampfl moderierte Podiumsdiskussion warf einen Blick in die Zukunft: Was braucht es in Vorarlberg, damit neue Wohnformen massentauglich werden? Anja Innauer, Vize-Bürgermeisterin von Bezau und Architektin, sieht das teure Einfamilienhaus als Auslaufmodell. Sie möchte den Menschen zeigen, dass gemeinschaftliches Wohnen kein sozialer Abstieg, sondern eine positive Alternative ist, die sie selbst bei der im Rahmen des Projektes organisierten Besichtigung in Wangen erlebt hat. Bernhard Kleber hat als Bürgermeister von Andelsbuch ein erstes Vorzeigebeispiel unterstützt und gemeinsam mit einem Privatinvestor ein integriertes Wohn- und Betreuungsprojekt bestehend aus vier Gebäuden im Ortszentrum umgesetzt. „Dieses Beispiel hat im Bregenzerwald etwas ausgelöst“, betont Innauer die Wichtigkeit von Referenzprojekten. Fred Frohofer empfiehlt, klein anzufangen und zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen – die Ideen entwickeln sich dann von selbst weiter.
„Nur was dir gehört, ist etwas wert“ – dies sei laut einer Teilnehmerin aus dem Publikum das vorherrschende Denkschema in Vorarlberg. Diese Einstellung müsse besonders aus den jungen Köpfen herausgebracht werden. Wichtig dabei ist zu zeigen, dass die gemeinsame Nutzung einen Mehrwert bringen kann: bessere Waschmaschinen, ein großer Kühlraum, Spielzimmer und vieles mehr. „Damit gemeinschaftliche Nutzung und Zusammenleben funktionieren, braucht es klare Spielregeln, die gemeinsam formuliert werden“, rät Frohofer.
Ab Juli werden die Regeln für die Kreditvergabe verschärft und es ist abzusehen, dass sich deutlich weniger Menschen einen Immobilienkredit leisten können. Laut Christoph Jenny, Direktor der Wirtschaftskammer, sollen die neuen Regeln mehr Stabilität in den Immobilienmarkt bringen. Rainer Keckeis, Direktor der Arbeiterkammer, sieht Wohngenossenschaften als wichtige Angebotsergänzung, um gerade älteren Menschen langfristig leistbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Mutige Gemeinden können Chancen nutzen
Weitere aus dem Publikum eingebrachte Vorschläge: Leerstand besser nutzen, Flächen umwidmen und hierbei den Mehrwert abschöpfen zugunsten der Gemeinden. Einigkeit herrschte darüber, dass Gemeinden den „goldenen Schlüssel“ haben, um neue, zukunftsträchtige Wohnformen zu unterstützen. „Gemeinschaftlich bauen und wohnen ist ein Bedürfnis vieler. Bisher sind die konkreten Schritte zur Umsetzung aber noch sehr verhalten“, fasst Peter Steurer von der Regionalentwicklung die aktuelle Situation zusammen. „Haben Sie als Gemeinde den Mut, sich auf bürgerschaftliches Engagement einzulassen und nutzen Sie die Chancen, die sich daraus ergeben“, empfiehlt Steurer abschließend.
Vorstellung der Projektergebnisse "Neue Nachbarschaft"
Präsentation Fred Frohofer: Vom Mehrwert gemeinschaftlichen Bauens & Wohnens
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