Gemeinschaftlich Wohnen: Von der Vision zur Wirklichkeit

Architekt Volker Schopp vom Büro Weberbrunner und Christian Hagmann gaben der Gruppe aus Vorarlberg Informationen aus erster Hand zum Gebäude und dem Entstehungsprozess.
Architekt Volker Schopp vom Büro Weberbrunner und Christian Hagmann gaben der Gruppe aus Vorarlberg Informationen aus erster Hand zum Gebäude und dem Entstehungsprozess.
27.04.2022

In Lindau, Deutschland, steht die Idee für genossenschaftliches Wohnen. In Winterthur in der Schweiz hat die Familie Hagmann ein Vorzeigebeispiel für suffizientes, gemeinschaftliches Wohnen geschaffen. Was es in Vorarlberg braucht, damit diese Wohnform von der Nische zum Standard wird, steht bei der Schlussveranstaltung Anfang Juni zur Diskussion.

Mit dem LEADER-Projekt Neue Nachbarschaft will die Regio-V dazu beitragen, Bewusstsein für alternative, gemeinschaftliche Wohnformen zu schaffen. Ein erprobter Weg dazu ist das Lernen von anderen. Nach den vorangegangenen Veranstaltungen für Gemeindeverantwortliche waren am 22. April 2022 Fachleute eingeladen, die Projekte quartier4 in Lindau und das Hagmann-Areal in Winterthur kennenzulernen.

Genossenschaftliches Wohnen in Startposition

Die Wohngenossenschaft quartier4 eG hat sich zum Ziel gesetzt, in Lindau am Bodensee Wohnraum der Spekulation zu entziehen und ihren Mitgliedern bezahlbaren, nachhaltigen Wohnraum bereitzustellen. Christian Wollin, Vorstandsmitglied der Genossenschaft, präsentierte der Vorarlberger Gruppe aus Architekt*innen, Architektur-Studierenden und Vertreter*innen von Wohninitiativen während der gemeinsamen Busfahrt in die Schweiz das Vorhaben. Die Genossenschaft hofft, auf der hinteren Insel ein Grundstück zu kaufen oder in Erbpacht zu übernehmen, um dort circa 50 Wohnungen zu errichten. Der bestehende Rahmenplan und ein Stadtratsbeschluss, dass dieses stadteigene Grundstück nicht dem freien Markt überlassen werden soll, bieten gute Voraussetzungen.

Die inzwischen 120 Mitglieder der seit mehr als zwei Jahren bestehenden Genossenschaft müssen sich derzeit in Geduld üben, da von Seiten der Politik und einer Bürgerinitiative Zweifel an den Vorhaben auf der hinteren Insel bestehen. „Wir brauchen einen langen Atem, müssen uns jetzt behaupten und die Notwendigkeit und die Vorteile einer lebendigen Wohngenossenschaft an diesem Ort aufzeigen. Es gibt kaum etwas Effektiveres, um bezahlbaren Wohnraum sowie ein belebtes Wohnviertel zu schaffen und gleichzeitig Immobilienspekulation und den Wildwuchs an Ferienwohnungen zu bremsen“, zeigt sich Wollin motiviert.

Gemeinschaftlich suffizient wohnen im Familienbesitz

Was in Lindau entstehen soll, funktioniert in Winterthur bereits seit über vier Jahren. Die drei Geschwister Hagmann haben auf dem Hagmann-Areal 50 Mietwohnungen geschaffen und ermöglichen dort gemeinschaftliches, an den Zielen einer 2000-Watt-Gesellschaft orientiertes Wohnen. "Einerseits wollten wir mit dem Erbe etwas Sinnvolles machen für unsere Nachkommen, andererseits auch der Gemeinschaft etwas zurückgeben. Die Rendite war nicht unser einziges Ziel“, beschreibt Christian Hagmann die Motivation der Gründerfamilie.

Wo die Familie früher eine Zimmerei betrieb, teilen sich jetzt 124 Menschen von 1 bis 94 Jahren einen U-förmigen Wohnkomplex mit gegenüber liegendem Gemeinschaftshaus, der von der Architektengemeinschaft Weberbrunner und Soppelsa geplant wurde. Die Gebäude umschließen einen Hof, in dem sich die Bewohner*innen begegnen, wenn sie beispielsweise zu ihren Wohnungen gehen oder sich dort mit ihren Kindern aufhalten. Der Gemeinschaftsraum ist jederzeit frei zugänglich und kann zum Beispiel für einen Abend reserviert werden.

Einer der Eigentümer, Christian Hagmann, prägt das Projekt besonders. Er verwaltet das Areal zusammen mit seiner Frau. Sie wohnen auch dort und initiieren und betreuen verschiedene Gemeinschaftsaktivitäten. Sein neuestes Angebot: Eine Internetseite, über die die Bewohner*innen Gegenstände wie z.B. Haushaltsgeräte oder Werkzeuge voneinander ausleihen können. „Das Projekt ist nicht fertig, wenn es fertig gebaut ist“, so Hagmann zu seinem Einsatz für die Gemeinschaft.

Flexible Raumnutzung für zufriedene Mieter*innen

Die Mietpreise sind moderat und die Besitzer*innen wünschen sich möglichst langfristige Mietverhältnisse. Dazu werden Wohnungen getauscht, wenn sich der Bedarf ändert, weil z.B. Kinder ausziehen. Die Wohnungen sind möglichst gut belegt: Die maximale Zimmerzahl beträgt die Bewohner*innenzahl plus 1,5, das heißt, ein Paar sollte maximal in einer 3,5-Zimmer großen Wohnung leben.

Im und am Gebäude findet sich wenig Technik, dafür viel regionales Holz und Handwerks-Knowhow der regionalen Betriebe. Eine Besonderheit sind die 12 Zusatzzimmer, die je nach Bedarf vermietet werden: an Kleinunternehmen (auch von Außenstehenden), als Gästezimmer für die Mieter*innen oder derzeit auch an Flüchtlinge aus der Ukraine. Weitere Treffpunkte für die Bewohner*innen: die Wasch-, Kinderwagen- oder Fahrradräume, der Gemüsegarten, der Pizzaofen im Freien und die Sauna im Dachgeschoss.
Die Mieter*innen fühlen sich wohl. Ein älteres Ehepaar weiß die nicht verpflichtenden Gemeinschaftsangebote zu schätzen: „Schön, dass die Gemeinschaft da ist, man aber nicht an allem teilnehmen muss. Wenn uns die Kinder im Hof zu laut werden, schließen wir einfach das Küchenfenster“. Eine junge Familie mit Kind hat gerade ihre 3,5-Zimmer-Wohnung gegen eine 2,5-Zimmer-Wohnung getauscht: „Weil wir so viel Außenraum zur Verfügung haben, reicht uns das völlig. Außerdem wirken die Wohnungen größer als sie sind, dank der 2,50 Meter hohen Decken und den Außenzimmern, die zu fast jeder Wohnung gehören.“

Dem Konzept der Suffizienz entsprechend ist das Areal weitgehend autofrei, was durch den unmittelbar angrenzenden Bahnhof mit zwei öffentlichen Carsharing-Plätzen bestens funktioniert. Ein kleines Gewerbeareal auf dem Gelände ist erhalten geblieben mit Schreinerei, Nähatelier und einem Laden für gebrauchte Bauteile. Ein zweiter Neubaukomplex mit weiteren 60 Wohnungen soll in den nächsten Jahren zusätzlich auf dem Gelände entstehen, gebaut durch eine örtliche Wohngenossenschaft.

Webseite des Hagmann-Areals

Von der Theorie zur Praxis: Schlussveranstaltung Neue Nachbarschaft

Mit dem Projekt Neue Nachbarschaft hat die Regio-V dazu beigetragen, das Bewusstsein für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in Vorarlberg zu steigern, Fachwissen zur Verfügung zu stellen und Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Im Rahmen der Schlussveranstaltung in Feldkirch am 2. Juni 18 bis 20.30 Uhr werden die Projektergebnisse vorgestellt. Anschließend wird diskutiert, wie es gelingen kann, gemeinschaftliche Bau- und Wohnprojekte in Vorarlberg vom Nischenvorhaben zum Standard-Repertoire zu machen. Insbesondere Gemeinden sollen ermutigt werden, hierbei aktiv zu werden. Melden Sie sich jetzt an!

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